– Ein Beitrag mit Fotos von Anja, Christoph und Niklaas –
Nicht in einem Rutsch, sondern in drei Steps überqueren wir den Atlantik von West nach Ost. Die ersten beiden Schritte von den Bahamas über Bermuda zu den Azoren haben wir bereits geschafft. Nun steht noch die letzte Etappe an: Von den Azoren nach England. Und mit dabei mein Cousin Christoph und sein alter Schulfreund Niklaas.
Keine Überfahrt verläuft glatt – aber auf keiner habe ich so vielfältige Höhen und Tiefen empfunden: Geduldsprobe, Krankheit, Starkwind, Bruch, aber der Reihe nach.
Warten auf Godot oder: Kommen wir überhaupt los?
Am 1. Juni reisen Christoph und Niklaas zu uns auf die Azoreninsel Terceira an. Ankunftszeit mittags, woraus allerdings wegen eines gecancelten Flugs Mitternacht wird. Die beiden, vor allem Christoph, haben ohnehin eine anstrengende Zeit hinter sich, dies gibt ihnen nun noch den Rest. Vollkommen erledigt kommen die beiden an.
Zum Glück ist ein möglicher Aufbruchstermin aufgrund der Wetterlage ohnehin noch nicht in Sicht. Wobei „Glück“ relativ ist, denn der Umstand, dass sich bis auf weiteres so gar kein Wetterfenster ankündigt, macht mich reichlich nervös. Schließlich haben die beiden nicht unbegrenzt Zeit, um mit uns die Route von den Azoren nach England zu segeln. Aber solange ein stabiles Hochdruckgebiet über dem Nordatlantik und ein südlicher liegendes Tief die Luftmassen in exakt die falsche Richtung befördern, ist an Ablegen nicht zu denken.
So nutzen wir unsere Zeit und segeln von Praia da Vitoria, in der Nähe des Flughafens gelegen, in das deutlich hübschere Angra do Heroismo, das nicht ohne Grund zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt wurde.
Dort werde ich erst einmal krank und verbringe zwei Tage im Bett – und auf der Toilette. Ich bin etwas verwirrt, habe ich doch die Zeit in den Tropen, die für solche Geschichten geradezu sinnbildlich stehen, gesund überstanden. Die Drei mieten sich ein Auto und kommen beeindruckt von Wanderungen zurück. Und erledigen den so wichtigen Proviantierungseinkauf. Allerdings sehe ich mit meinem Unwohlsein und dem Wetter den Aufbruch in immer weitere Ferne rücken.
Aber dann scheint sich sich doch ein Wetterfester aufzutun, für den Freitag, 07. Juni. Das wär natürlich Klasse, gerade rechtzeitig, um in England innerhalb der drei Wochen anzukommen, die Christoph und Niklaas Zeit haben. Nur hoffe ich, bis dahin wieder gesund zu sein. Und dass wir die vielen kleinen Vorbereitungen noch erledigt bekommen, die vor dem „Leinen Los“ erledigt sein wollen. Die letzten zwei Tage bin ich wieder einigermaßen bei Kräften. Es steht noch die Reinigung des Unterwasserschiffs an, für das das Boot abgetaucht werden muss. Da ich dies nicht im Hafenwasser erledigen möchte, legen wir das Boot in die recht rollige Bucht vor dem Hafen. Außerdem machen wir dort noch einmal Wasser, auch besser hier, als das Trinkwasser aus der Hafenbrühe zu gewinnen.
Für die Reparatur des Windgebers muss ich noch mal in den Mast – hierfür ist wieder die Marina besser geeignet, wo das Schiff schwankungsfrei liegt. Am Ende steht noch eine ausführliche Einweisung für Christoph und Niklaas an, das Dingi muss an Deck verstaut werden, Ausklarieren, Anja bereitet einen großen Kartoffelsalat vor und schließlich noch die Verabschiedung von Annemiek und Gerco, die wir in Angra wiedergetroffen haben und die – anders als wir – ihre Reise ins Mittelmeer fortsetzen.
Erst am Abend sind wir mit allen fertig und ich frage mich, was gewesen wäre, wenn sich schon früher eine Gelegenheit zum Lossegeln aufgetan hätte …
Tag 1 (Freitag, 07. Juni 2024)
Und ganz unspektakulär starten wir am nächsten Morgen bei Sonnenschein und moderatem Wind. So richtig kann ich es nicht glauben, dass wir nun unterwegs sind.
Die Nacht bricht herein, den Wachrhythmus hatten wir schon durchgesprochen: Anja und ich übernehmen die Wache bis Mitternacht, Niklaas und Christoph die Hundewache von 00 bis 04 Uhr. Und dann sind wieder Anja und ich am Zuge.
Tag 2 (Samstag, 08. Juni 2024)
4 Uhr morgens, meine erste richtige Nachtwache dieser Überfahrt beginnt. Der Mond ist nicht zu sehen, auch kaum Sterne, aber trotz dieser minimalen Beleuchtung sind die Wolken gut erkennbar. Ansonsten ist es gespenstisch einsam, vier andere Yachten, die zu einer ähnlichen Zeit wie wir aufgebrochen waren, sind inzwischen aus unserem Sichtfeld verschwunden, neue Schiffe sind nicht hinzugekommen.
Dafür sind die Segelverhältnisse sehr moderat, 3-4 Windstärken von der Seite, so hat man es gerne. Nur vorn in der Vorschiffkoje, wo Anja und ich schlafen, reichen bereits diese Verhältnisse aus, um für erhebliche Bootsbewegungen zu sogen. Später wechselte ich in den Salon, wo das Einschlafen etwas leichter fällt. Ich weiß, ich wiederhole mich, wenn ich über die erste Nacht auf See schreibe: Ich finde nur leichten, Anja gar keinen Schlaf.
Immerhin beschert uns auch dieser zweite Tag ruhiges Segeln. So ruhig, dass selbst ich kaum etwas zu tun habe. Einmal Reffen, einmal wieder ausreffen ist alles, was erforderlich ist.
Aber wie schon angedeutet, ist dies die Überfahrt der Reparaturen. Der erste Ausfall, der repariert werden soll: Der Bedienknopf des Seekartenplotters hat sich abgelöst. Erst will ich ihn mit Sikaflex kleben, habe dann aber Bedenken, dass sich der Knopf anschließend gar nicht mehr bewegen lässt und folglich außer Funktion bleibt. Stattdessen wird kunstvoll mit Tape gearbeitet. Bei der Gelegenheit mache ich die Verschraubung des Bedienteils mit dem Plotter, die durch Korrosion ordentlich gelitten hatte, wieder gangbar. Normalerweise sind solche Tätigkeiten für mich höchst befriedigend. Genau genommen der eigentliche Grund, weshalb ich auf See fahre. Aber heute, mit meinem noch immer schmerzenden Bauch, kommt keine Gelassenheit auf. So wie bei keiner Tätigkeit an Bord. Schade, es könnte so schön sein. Aber Schmerzen können das Wohlbefinden doch sehr beeinträchtigen.
Starkwind im Anmarsch
Ganz allein sind wir übrigens nicht: Wie schon bei den Etappen von den Bahamas nach Bermuda und weiter zu den Azoren wollen wir die Überfahrt gemeinsam mit der Segelyacht Sima bestreiten. Die Sima ist mit Florian, einem ehemaligen Arbeitskollegen, seiner Frau Isa, ihren beiden Kindern und Ralf als Unterstützung unterwegs. Die fünf sind von der Nachbarinsel Sao Miguel gestartet, einen halben Tag nach uns, sodass wir dieses Mal nicht in Sichtweite segeln, sondern in etwa 100 Seemeilen Abstand.
Abends telefoniere ich mit Florian über das Wetter und die Wahl der Route. Das Konzept auf unseren beiden Schiffen ist das gleiche: Wir planen, zunächst nach Norden zu segeln, vorbei an einem umfangreichen Hochdruckgebiet und dann erst direkten Kurs „Ost“ auf unser Ziel „England“ zu nehmen. Das Weather-Routing-Programm von Florian empfiehlt grundsätzlich das gleiche, geht aber sehr dicht an das Hoch und damit an die Schwachwindzone heran. Das wollen wir beide anders machen: Lieber ein weiterer Weg, aber dafür ohne nervtötenden Schwachwind.
Viel mehr ist man auf der Sima allerdings um ein Tief besorgt, das uns am Ende der Passage überrollen wird. Das europäische Wettermodell (ECMWF) sagt starken, das amerikanische (GFS) sogar stürmischen Wind voraus. So wird auf der Sima diskutiert, nach Runden des Hochs statt nach England nach Nordspanien zu segeln. Ich bin angesichts dieser Überlegungen etwas verunsichert. Zum Glück ist noch etwas Zeit für eine Entscheidung und bis dahin kann sich an der Windstärke des Tiefs auch noch einiges ändern.
Appetitmangel an Bord
Vor einem solchen Hintergrund tut es eigentlich immer gut, erst einmal etwas zu essen. Was den Appetit an Bord angeht, sind wir allerdings das exakte Gegenteil der Crew der Passage Bahamas – Bermuda – Azoren. Während bei diesen Passagen täglich mehrfach aufwändig aufgedeckt und reichhaltig gegessen wurde, ist nun Zurückhaltung angesagt: Christoph ist sehr vorsichtig mit dem, was er verträgt und was nicht, bei Niklaas verhält es sich ähnlich, vor allem seiner latenten Seekrankheit geschuldet. Und bei mir ist zwar durchaus Appetit da, aber ich belasse es aufgrund meines Magens bei Spatzenportionen.
Tag 3 (Sonntag, 09. Juni 2024)
Der Tag bringt Sonnenschein, und das beinahe von morgens bis abends. Entsprechend blüht die Stimmung an Bord auf. Auch meinen Magen geht es besser. Vielleicht liegt es auch an einer geschickteren Ernährung: Statt Haferflocken esse ich heute leicht verdauliches Weißbrot mit Marmelade.
Aber etwas anderes drückt auf die Stimmung: Die schon erwähnte Starkwindzone hat sich gefestigt; sie wird über uns hinwegziehen, ohne dass wir ihr ausweichen können. Auf der Sima zieht man bereits Konsequenzen und möchte am Abend nach Osten Richtung La Coruna (Nordspanien) abziehen und dort erst einmal einen Stopp einlegen. Ich gehe mit den aktuellsten Wetterdaten mit Anja das Geschehen im Detail durch. Für uns ist eine Fortsetzung der Reise tragbar. Ein merkwürdiges Gefühl bleibt dennoch, wenn das ehemalige Buddy-Boat Sima sozusagen rechts an den Straßenrand fährt.
Als ich meine 4-Uhr-Wache antrete, ein weiterer Tiefpunkt: Der Wind ist weg, wir schmeißen den Motor an. Auch das noch, wir sollten eigentlich Gas geben, um möglichst noch vor dem angekündigten Starkwind am Ziel zu sein. So wird das nichts. Doch nach einer Stunde kommt schon wieder Wind auf. Und das sogar von achtern, so geht es weiter im Schmetterling, meiner absoluten Lieblings-Segelstellung. So ist das Seglerleben, ein stetiges Auf und Ab.
Tag 4 (Montag, 10. Juni 2024)
Heute vollziehen sich gleich zwei besondere Kurswechsel: Zum einen sind wir nun weit genug nach Norden gesegelt, um beinahe 90 Grad abzubiegen und – ganz ungewohnt – direkt dem Ziel entgegenzusegeln. Der zweite Kurswechsel: Ziel soll nicht England, sondern Camaret sur Mer bei Brest sein. Auf diese Weise können wir den kräftigsten Böen der Starkwindzone entkommen. Mit dem Kompromiss „Frankreich statt England“ bin ich nun ganz zufrieden.
Und die zweite der vielen Reparaturen steht an: Segelflicken. Niklaas waren mit seinen aufmerksamen Augen zwei Risse am Achterliek der Genua aufgefallen. Ich hatte die Stellen erst für Knicke im Tuch gehalten, aber nach genauem Hinsehen mit Fernglas ließ es sich nicht mehr wegdiskutieren: Hier liegt Materialtrennung vor. Der Tag ist günstig für eine Reparatur: trocken, wenig Wind, kaum Welle. Außerdem sind wir mit vier Personen an Bord hervorragend bemannt. Also Genua runter, nur unter Großsegel segeln wir weiter und machen uns derweil ans Flicken. Zum Glück sind die Zeiten vorbei, wo aufwändig genäht werden musste. Stattdessen bringen Christoph und ich eine spezielle, in der Vergangenheit schon bewährte Klebefolie auf. Zwei weitere Stellen, die ebenfalls bereits Rissansätze zeigen, bekommen auch gleich ein Pflaster verpasst. Etwas mulmig ist mir ja, die letzten zwei Jahre sind offensichtlich an dem Tuch nicht spurlos vorbeigezogen. Aber für zwei Monate bis zum Erreichen Kiels sollte das halten.
Tag 5 (Dienstag, 11. Juni 2024)
Meinem Magen scheint es besser zu gehen. Und so wird der Tag zum Fresstag: Morgens Müsli statt Weißbrot, mittags machen Anja und Christoph einen Obstsalat, den ich sogar mit Jogurt (!) esse. Und abends Kartoffeln, Fisch und Broccoli. Lecker – und ich werde anschließend noch nicht einmal durch Magendrücken bestraft.
Überhaupt verläuft der Tag sehr ruhig, stetiger, mäßiger Segelwind, erst von der Seite, dann dreht er auf Rückenwind. Niklaas und ich riggen wieder meine Lieblingskonstellation: Schmetterling, der Traumkurs. Nur eines will sich heute so gar nicht blicken lassen: die Sonne. Stattdessen segeln wir mal durch Nieselregen, dann durch Nebel. Und die Sonne bräuchten wir eigentlich, nicht nur fürs Wohlbefinden, sondern auch, um die Batterien für den Betrieb des Watermakers laden zu können. Nun sind ab dem späten Nachmittag für beinahe einen Tag schwache Winde vorausgesagt, ohne Motoren werden wir wohl ohnehin nicht auskommen und können dabei gleich die Batterien laden.
Um 20 Uhr starten wir schließlich die Maschine. Nach zwei Stunden ist genug Wasser erzeugt. Da der Wind inzwischen ganz weg ist, motoren wir durch die Nacht und laden gleichzeitig die Batterien.
Um 01 Uhr dann die Erleichterung: Christoph und Niklaas wecken mich, es gebe Wind. Und der ist tatsächlich da, mit 10 bis 12 Knoten gerade genug zum Segeln. Das Tuch ist schnell ausgerollt und wir setzen uns mit stattlichen 4 bis 5 kn Fahrt in Bewegung. Das mag zwar langsam sein, macht aber nichts: Das ersehnte Windgebiet liegt nicht vor uns, sondern wird uns von hinten kommend einholen. Je langsamer wir sind, desto eher wird dies also eintreffen, laut Vorhersage irgendwann zwischen 9 und 12 Uhr.
Um 4 Uhr, meine Wache beginnt, bläst der Wind noch immer schwach, gerade ausreichend zum Segeln, aber wie gesagt – es muss ja nicht schnell sein. Trotzdem ist dieses Segeln an der unteren Grenze immer ein Nervenspiel.
Tag 6 (Mittwoch, 12. Juni 2024)
Der nächste Tag hält alles bereit: Morgens erst einmal schleppend wenig Wind, für weitere zwei Stunden lassen wir sogar den Motor laufen. Der Trost dabei: Die Batterien sind nun randvoll und auch die Wassertanks. Gerade letzteres ist wichtig, denn ich bezweifle, dass die angekündigten Seegangsverhältnisse in den nächsten Tagen Wassererzeugung möglich machen werden.
Am frühen Morgen entdecke ich beim Einholen des Spibaums auf dem Vordeck ein kleines Desaster, der dritte Ausfall: Der Simmerring für das Lager der Rollfockanlage ist offensichtlich defekt. Das gesamte Öl hat sich über dem Bug verteilt. Es ist eine Riesenschweinerei entstanden, der ich mit Bremsenreiniger und Küchenrolle zu Leibe rücke – Christoph hilft.
Die Anlage selbst funktioniert tadellos, bis England sollte es wohl gehen. Aber ich bin frustriert und lasse mich zu der Aussage hinreißen, dass das Boot nach meiner Einschätzung wohl demnächst auseinanderfallen werde. Wie mir Christoph am nächsten Tag erzählt, hat dies bei ihm zu einiger Verunsicherung bezüglich der Seetüchtigkeit unseres Schiffes geführt – in Zukunft sollte ich wohl etwas vorsichtiger sein …
Gegen Mittag kommt der angekündigte Wind auf. Im Schmetterling geht es schnell voran, eine wahre Freude. Stück für Stück nimmt der Wind zu und die Anzahl der Reffs ebenso. Zum Abend hin steht nur noch das 2fach gereffte Groß und die gereffte Fock.
Nun ist es nicht mehr zu leugnen: Das schon erwähnte Tief ist angekommen. Es wird uns mit zwei Starkwindphasen segnen. Diese Nacht kommt die erste. Nach einer kurzen Verschnaufpause wird die zweite Phase fast genau 24 h später einsetzen, mit mehr Wind und höheren Wellen und das für einen längeren Zeitraum von etwa 2 Tage. Und die stärksten Böen werden dabei wohl ausgerechnet auf meinen Geburtstag fallen. Dass ich meinen Geburtstag wohl auf See feiern würde, war bereits beim Ablegen klar. Dies hatte ich mir eigentlich ganz zünftig vorgestellt, aber unter diesen Umständen hält sich die Vorfreude in Grenzen.
Aber nun erst einmal die erste Starkwindphase bestehen! Diese ist sozusagen zum Eingewöhnen. Wir machen das Boot sturmfest, alles unnötige wird beiseite geräumt, alles andere sturmfest verstaut.
Ich schlafe ungewöhnlich schlecht – wahrscheinlich zu viel Kaffee am Nachmittag getrunken – wirklich dämlich. Mit dem Wachwechsel um 00 Uhr, Christoph und Niklaas übernehmen die Wache, komme ich ins Cockpit, um mir eine Bild der Lage zu verschaffen. Segel stehen gut, aber nachdem wir tagelang kaum ein anderes Schiff gesehen hatten, sind nun gleich drei im AIS zu sehen. Zwei davon passieren uns in ausreichendem Abstand, das dritte, ein Tanker, kommt von vorn direkt auf uns zu. Und macht auch keine Anstalten einer Kursänderung. Normalerweise lässt sich die Situation leicht entschärfen, indem man selbst schon weit zuvor den Kurs ändert. In diesem Fall schwierig: Nach Backbord auszuweichen würde ein aufwändiges Halsen mitten in der Nacht erfordern, mit einer Kursänderung nach Steuerbord würden wir dem Tanker direkt vor den Bug kreuzen. Als der Tanker nur noch einen Abstand von acht Meilen von uns hat, funke ich das Schiff an. Ja, er habe mich gesehen und wird seinen Kurs anpassen. Nach einigen etwas bangen Augenblicken ist es dann auch tatsächlich erkennbar, dass der Tanker seiner Ausweichpflicht nachkommt. Eine Stunde später ist der Spuk vorbei, das Schiff passiert uns in einer guten Meile an unserer Steuerbordseite.
Immerhin kann ich danach doch noch ein oder zwei Stunden schlafen, bevor ich um 4 Uhr zu meiner Wache im Cockpit erscheine. Bevor Christoph und Niklaas im Bett verschwinden, steht allerdings noch eine Halse an. Der Wind hatte über die vergangenen Stunden kontinuierlich so gedreht, dass wir auf unsrem Kurs nicht mehr Brest, sondern Nordspanien erreichen würden. Derartige Manöver in der Nacht sind immer etwas herausfordernd, aber wir bekommen es den Umständen entsprechend ganz gut über die Bühne.
Langsam kommt das Tageslicht wieder zurück – sehr angenehm und auch der Wind wird wieder schwächer, wenn auch die Verhältnisse weit entfernt von Genusssegeln bleiben.
Tag 7 (Donnerstag, 13. Juni 2024)
Ein fürchterlicher Tag. Ich habe schlicht zu wenig geschlafen und entsprechend geht es mir: permanent etwas benebelt und Kopfschmerzen. Obwohl sich der Wind wieder von der angenehmen Seite zeigt. Wie angekündigt gibt es nach der überstandenen ersten Starkwindphase für einen Tag Erholung. Ganz unspektakulär gleiten wir dahin, nach einiger Zeit holen wir den Schmetterling raus. Schönes Segeln, wenn nicht die nächste Prüfung bevorstünde. Den ganzen Tag erhole ich mich nicht so recht von meinen Plagen. Wie schon 24 h zuvor ist der Ablauf der gleiche: Der Wind nimmt kontinuierlich zu, wir reduzieren Stück für Stück die Fläche unseres Schmetterlings, bis zum Abend nur noch Fock und 2fach gerefftes Groß stehen.
Tag 8 (Freitag, 14. Juni 2024)
Morgens um 04 Uhr bekomme ich von Christoph und Niklaas erst einmal ein Geburtstagsständchen gesungen. Ich bin ganz gerührt, gerade wo mein Geburtstag auf keinen raueren Tag hätte fallen können. Dazu ein Tee und Kekse. Fühlt sich schon ein bisschen nach Geburtstag an.
So früh am Morgen ist der Wind noch bemerkenswert moderat. Ist das schon das, was kommt? Erst scheint es so, aber dann kommt er doch noch: Starkwind mit jeder Menge Regen. Außerdem bauen sich die Wellen stattlicher Größe auf, die schließlich wie angekündigt ihre 4 Meter an Höhe erreichen. Anfangs sehr chaotisch bringen sie das Boot häufig aus dem Kurs. Wir nehmen das Großsegel komplett weg. Nun, nur noch mit einem Segel, das sich vom Cockpit aus höchst einfach reffen lässt, fühle ich mich besser. Aber trotzdem: Das Boot wird häufig von den Wellen aus der Bahn beworfen. Mit reduzierter Segelfläche, am Ende steht nur noch das vielzitierte Segel in Handtuchgröße, wird das Boot zahm. Sobald der Wind etwas nachlässt, wird die Situation auch wieder instabil, da das Boot nicht die Kraft hat, sich gegen den Seegang durchzusetzen, also wieder ein Stück ausreffen.
Im Verlauf des Tages wird der Lauf des Bootes immer stabiler. Wahrscheinlich sind es die Wellen, die nun gleichmäßiger unter dem Boot hindurchrauschen. Immer wieder ist es faszinierend, wie sich hinter oder neben uns eine Wellenberg aufbaut, bei dem der Eindruck entsteht, er würde uns gleich überspülen. Aber wie durch Geisterhand wird stattdessen das Heck angehoben und die Welle schiebt sich unter uns hindurch, ohne das Cockpit zu erreichen. Naja, fast immer. Ab und zu bricht ein Wellenkamm genau neben uns und sorgt für eine Seewasserdusche. Und dies kaum vorhersagbar, deshalb bleibt der Niedergang die ganze Zeit geschlossen, wenn dadurch auch das Betreten des Cockpits etwas umständlich wird. Immerhin kommen wir doch noch ein bisschen zum Feiern: Anja hat in der Vorschiffkoje meinen Geburtstagstisch aufgebaut. Außerdem gibt es Kuchen und leckere Pralinen aus Sao Miguel.
Abends verliert der Wind an Stärke, entspanntes Segeln sieht aber noch immer anders aus. Wenn man erst einmal in einer guten Position eingekeilt einen Sitzplatz gefunden hat, ist es durchaus angenehm, aber jede Tätigkeit ist anstrengend und erfordert Konzentration. Insbesondere weil jeder Fehler, einen Gegenstand kurz mal irgendwo abzustellen, gleich bestraft wird, indem er durch die Gegend katapultiert wird.
Tag 9 (Samstag, 15. Juni 2024)
Der Wind ist merklich schwächer geworden, die Bewegung des Bootes kaum. Denn die Wellen sind noch in ihrer alten Größe vorhanden. Also der zweite Tag des „Survivals auf See“. Aber wir stellen fest: Mit einer leichten Kurskorrektur können wir sogar die Isles of Scilly anlaufen, unser ursprünglicher Plan.
Mittlerweile können wir unser Eintreffen in England ganz gut einschätzen: Am Sonntagmorgen sollte es so weit sein. Da Großbritannien bekanntermaßen kleine EU-Mitglied mehr ist, muss hier einklariert werden. Hierzu ist das Eintreffen zuvor über ein entsprechendes Online-Formular anzukündigen. Und dank Starlink ist dies bei uns an Bord auch praktikabel. Einen Entwurf hatte ich bereits angelegt, nun müssen noch die Daten von Christoph und Niklaas ergänzt werden, das genauere Anreisedatum hinterlegt und einige Fragen zu unseren zu verzollenden Gegenständen beantwortet werden. Nach Bewältigung einiger Fallstricke kann ich unsere Ankündigung absenden und bekomme eine Bestätigung per Mail. Sobald wir in die Nähe kommen, soll die Küstenwache (die hier Border Force heißt) kontaktiert werden, um die erforderlichen Schritte abzufragen – kurioserweise per Telefon. Und natürlich ist wie überall üblich die gelbe Quarantäne-Flagge zu setzten, in der Nacht illuminiert, wie es im Gesetzestext so schön heißt.
Zum Abend nimmt der Wind weiter ab, aber die Böen sind noch immer so stark, dass wir weiterhin mit nur einem Segel, der kleinen Fock, unterwegs sind.
Tag 10 (Samstag, 16. Juni 2024)
Erst am nächsten Morgen ist es so weit: Das Großsegel wird feierlich wieder gesetzt. Und mit einem Male ist Land in Sicht. Niklaas entdeckt es als erster, zu einem Zeitpunkt, wo ich noch gar nicht damit gerechnet hatte, die vergleichsweise flachen Isles of Scilly sehen zu können.
Mittlerweile haben wir auch Mobilempfang, also Zeit, die britischen Küstenwache anzurufen. Das Gespräch verläuft sehr unkompliziert: Eine Tonbandstimme klärt mich auf, dass wir nichts weiter unternehmen müssen, wenn wir uns auf elektronische Weise bereits angekündigt haben.
Ganz ungewohnt ruhig geht es in die erste Ankerbucht auf den Scillys. Wie bei anderen Überfahrten auch, lasse ich mich vom Ziel gerne überraschen und habe wenig Vorstellung, wie es dort aussieht. Lediglich die Information, dass es dort schön sein soll. Und das ist es auch, genauer gesagt traumhaft. Und das bei Sonnenschein.
Der Anker ist schnell geworfen und das Beiboot klar gemacht. Vor einem Landausflug dösen wir alle noch so dahin. Ein Ereignis dann doch noch: In die hinteren Backskisten ist einiges Wasser eingedrungen und hat Proviant und anderes dort lagerndes Gepäck durchnässt. Also alles auspacken, abtrocknen, in die Sonne legen und wieder verstauen. Hilft ja nichts und wenn alle tatkräftig dabei sind, ist es auch nur halb so schlimm.
Bei Christoph und Niklaas soll es am nächsten Tag nach Hause gehen. Aber dieser Tag gehört noch uns. Abends gehen wir zum Pub auf der Insel, essen typisch Englisch und erkunden ein bisschen die Insel. Ein herrlicher Abschluss der Reise.
Hallo Anja und Jochen, herzlichen Dank für die ausführliche Schilderung der Segeltour. Ich habe mit viel Interesse dieses Vorhaben begleitet und finde es sehr schön, dass diese Erfahrung für Niklaas möglich war. Gruß Antonia (Mutter von Niklaas aus Gründau)
Hallo Antonia,
die Freude war ganz auf unserer Seite: Wir waren wirklich ein Super-Team. Nun geht es bei uns allen wieder auf so unterschiedlichen Wegen weiter.
Viele Grüße von Bord von
Jochen und Anja
Lieber Jochen, liebe Anja,
vielen herzlichen Dank für den ausführlichen und spannenden Reisebericht. Wir freuen uns immer sehr über darüber und bewundern auch die vielen schönen Bilder ( Situationen, Orte und Landschaften ). Diese Teiletappe war schwierig aber Ihr alle habt sie, als Team, mit Bravour gemeistert.
Weiterhin eine gute und sichere Heimreise wünschen Euch,
Bettina u. Hans